Kunst im Film
Kunst und Film – Eine Symbiose?

von WERNER HERZOG

Was bedeutet eigentlich Kunst im Film, werden Sie sich vielleicht fragen, liebe Leserinnen und Leser? Oder eine andere Frage wäre: Gibt es heute noch Kunst im Film, da durch die großen Filmpaläste mit 10–20 Kinos die Kunst des Films eher zu einer reinen Kommerzware verkommt? Dies ist schon nach meiner Meinung eine sehr harte Bewertung. Aber wenn heutzutage die Premiere eines Films in ca. siebzig Kinos an einem Tag anläuft, hat dieses nichts mehr mit Kunst zu tun, sondern mit reinem Profitdenken der Filmindustrie!
Wenn ich an die Karl May-Filme der 60er Jahre denke, gab es immer schon den Gedanken an das Geschäft in der Filmindustrie. Nur habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Werbung und damit auch das Profitdenken in Sachen Film aufgrund der sehr teuren Produktionen in den letzten fünf Jahren zugenommen hat. Das heißt auch, dass in den Filmen mehr Quantität als Qualität geboten wird. Ich kann verstehen, dass eine große Auswahl an Filmen aufgrund der privaten Fernsehanstalten (33 Programme mittlerweile in Deutschland) angeboten werden muss, damit die Filmindustrie konkurrenzfähig bleibt. Ich glaube aber, dass dabei der Film (der künstlerische Film) auf der Strecke liegen bleibt. Dies ist ein Phänomen unserer modernen Zeit.

Darstellende Kunst
als ganzheitliches Film-Erlebnis
Trotzdem habe ich festgestellt, dass am Rande der Massenproduktionen aus Hollywood eine kleine Anzahl von Filmregisseurinnen und -regisseuren aus Europa versucht, die Kunst im Film zu beleben. Dazu fallen mir einige Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit ein wie ZUGVÖGEL …, EINMAL NACH IRANI, ARTEMISIA, SHINE – DER WEG INS LICHT, DER ENGLISCHE PATIENT, KOLYA Usw. –  Sie alle erzählen Geschichten, die von der Form, der Gestaltung und der Struktur getragen werden. Es sind nach meiner Meinung wunderbare Filme mit schönen Bildern und einer Sprache voller Poesie, d. h. nicht nur die handelnden Personen stehen im Mittelpunkt des Films, sondern der Film als Ganzes wirkt auf den Betrachter bzw. Zuschauer. Der Film sollte immer noch ein Erlebnis sein und nicht nur Unterhaltungswert haben; denn meiner Ansicht nach zählt der Film als Gesamtwerk zu der darstellenden Kunst.

Was heißt Kunst?
Der Begriff ist heute sehr vielschichtig und subjektiv. Im ursprünglichen Sinne heißt Kunst Wissen, Weisheit und die Kenntnis von den Dingen hinter den Dingen (Fertigkeit und Geschicklichkeit in bezug auf das Handwerk). Im weitesten Sinne bedeutet der Begriff „Kunst„ nach Brockhaus „jede auf Wissen und Übung begründete Tätigkeit„, d.h. das Filmemachen überhaupt wäre demnach eine Kunst, unabhängig davon, welche Handlung ein Film hat. – Eine andere Erklärung für den Begriff Kunst ist ein Werk von einem Menschen in seiner Gesamtheit hervorgebracht, das nicht durch eine Funktion eindeutig festgelegt oder darin erschöpft ist, zu dessen Voraussetzungen die Verbindung von hervorragendem und spezifischem Können und großem geistigen Vermögen gehören. Des weiteren zeichnet sich ein Kunstwerk durch eine hohe gesellschaftliche und individuelle Geltung aus, ohne dadurch große vorangegangene Kunstwerke außer Kraft zu setzen und den Beweis der Richtigkeit einer Aussage antreten zu müssen. Auch hierzu fallen mir etliche Beispiele zum Thema Kunst im Film ein wie CITIZEN KANE und Der DRITTE MANN von Orson Welles, SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD von Sergio Leone, TOD IN VENEDIG von Luchino Visconti, KINDER DES OLYMP von Marcel Carné  und andere mehr.

Kunstwerke
schreiben Filmgeschichte
Die genannten Titel sind Filme, die Klassiker der Filmgeschichte geworden sind. Das bedeutet, es sind Kunstwerke der Filmgeschichte, die in Form, Gestalt und Struktur völlig übereinstimmen. In diesen Filmen (andere habe ich nicht genannt, da es den Rahmen dieses Artikels sprengen würde) wird das Kino zum Erlebnis und Körper, Seele und Geist werden gleichermaßen angesprochen. Das Kino wird durch diese Kunstwerke zu einer Reise in die inneren Träume und damit eine Reise ins eigene Selbst.
Dies ist meine subjektive Wahrnehmung! Andere Menschen mögen eine andere Sichtweise haben und den Unterhaltungs- und Sammlerwert eines Filmes schätzen. Ich finde, auch diese Sichtweise verdient Respekt und Achtung, aber ich sehe mir einen Film mit künstlerischen Augen (gestalterisch-schöpferisch) an und nehme dadurch viele kleine Dinge bzw. Szenen wahr, die viel über die Gesellschaft und mich selbst durch handelnde Personen im Film aussagen.
In CITIZEN KANE wird in Rückblenden die Geschichte des großen Zeitungsverlegers Kane erzählt. Anhand der Geschichte vom kleinen, unschuldigen Kind bis zum todkranken Greis, der einsam und alleine stirbt, wird klar, welche Rolle die Medien nach dem Krieg in Amerika übernommen haben. Das ist nur ein Aspekt des Films, ein weiterer wäre die große schauspielerische Leistung von Orson  Welles sowie seine Ideen, den Film in Szene zu setzen, die Kameraführung usw.
Alles, was ich aufgezählt habe, wirkt in einem Kunstwerk als ganze Einheit. Aus diesem Stoff sind die Klassiker der Filmgeschichte entstanden, wobei der erlebende Zuschauer und nicht der Filmkritiker zum größten Teil dazu beiträgt.
Auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, haben dazu beigetragen, dass es Kunst im Film gibt. Unter dieser Rubrik werde ich in der kommenden Ausgabe den großen Bereich der Filmklassiker etwas näher betrachten.