Kunst im Film
Klassiker der Filmgeschichte
Versuch einer Annäherung
von WERNER HERZOG
Was sind eigentlich Klassiker
der Filmgeschichte?
Ist doch klar, werden Sie jetzt denken, liebe Leser! Da gibt es einige
Beispiele der Filmgeschichte, die dieses Privileg besitzen. Kennt
der Autor, der diesen Artikel schreibt, nicht Filme wie DIE KINDER DES
OLYMP von Marcel Carné und Jacques Prévert, METROPOLIS von
Fritz Lang, PANZERKREUZER POTEMKIN von Sergej Eisenstein, Die SIEBEN SAMURAI
und RASHOMON von Akira Kurosawa, DER DRITTE MANN und CITIZEN KANE von Orson
Welles (wobei die Autoren sich allgemein nicht einig sind, ob der letztgenannte
Film ein Kultfilm oder ein Klassiker ist)? Doch kenne ich diese Filme,
obwohl ich nicht alle genannten Filme gesehen habe.
Warum sind ausgerechnet diese aufgezählten Filme zu den Klassikern
der Filmgeschichte geworden und nicht andere Filme wie BEN HUR von William
Wyler, DIE ZEHN GEBOTE von Cecil B. DeMille sowie VOM WINDE VERWEHT von
Victor Fleming? (Ich habe noch eine lange Liste! Aber wenn ich noch weitere
Titel nennen würde, würde dieses den Rahmen des Artikels sprengen).
Nach welchen Kriterien werden die Klassiker der Filmgeschichte ausgesucht?
Haben die Filmkritiker diese Filme zu dem geschrieben, was diese Filme
noch heute bedeuten? Oder haben die Zuschauer diese Filme zu Klassikern
der Filmgeschichte gemacht, indem diese heute noch scharenweise in die
Kinos laufen, in denen diese Filme immer wieder einmal aufgeführt
werden? Oder war die Inszenierung dieser Filme durch die Regisseure
überragend, so dass oben genannte Filme aufgrund dieser Tatsache
zu den Klassikern der Filmgeschichte gehören?
Ich könnte noch weitere Fragen zu diesem Thema stellen, ohne eine
ausreichende Antwort zu bekommen. Vielleicht kann ich in diesem Artikel
einige der Fragen beantworten, andere vielleicht nicht.
Woher stammt die Bezeichnung Klassiker der Filmgeschichte?
Nach dem Brockhaus gibt es die Bezeichnung überhaupt nicht, sondern
nur die Klassik in der Musik, in der Malerei, in der Literatur sowie in
der Architektur. Außerdem erläutert der Brockhaus das Wort klassisch,
das für die Moderne gilt.
Im allgemeinen Sinne wird die Klassik nach Brockhaus als ein Epochen-
und Stilbegriff bezeichnet, der historische, normative und ästhetische
Bedeutungsebenen besitzt, die zum Teil in Überlagerung und Wechselverhältnis
zueinander stehen. Des weiteren werden andere Deutungsebenen aufgezählt:
Die römische Antike zum Beispiel betrachtete als Klassik im normbildenden,
kanonischen Sinne die griechische Kunst und Literatur, während in
der Renaissance unter dem Begriff Klassik einerseits allgemein die gesamte
griechisch-römische Antike und andererseits im besonderen deren Höhepunkte
wie die Epoche des Perikles (athenischer Staatsmann, Glanzzeit Athens;
Höhepunkt klassischer griechischer Kultur) für das griechische
Altertum sowie die Zeit der goldenen Latinität unter dem Kaiser Augustus
(z. Z. der Geburt Jesu Christi) für das römische Altertum verstanden
wurde. Das an Maßhalten, Harmonie und Vorbildlichkeit von Kunst
und Literatur orientierte Verständnis dieser Stilepochen, vor allem
der Griechen im dritten und vierten Jahrhundert vor Christus, wurde später
auf andere geschichtliche Räume, Völker und Kulturepochen übertragen
(z.B. auf das Elisabethanische Zeitalter; William Shakespeare usw.).
Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff Klassik für die Zeit
um 1800 (Weimarer Klassik) auf das Schaffen Goethes und Schillers bezogen,
und im engeren geschichtlichen Sinne die Zeit etwa um 1780-1830,
in der die Musik von Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van
Beethoven ihre Blütezeit hatte. Die Musik dieser drei Komponisten
bildet „ … die vollendete Einheit der Verständlichkeit
der musikalischen Umgangssprache (Lied- und Tanzhaftigkeit) mit höchster
kompositorischer Kunst, das Spiel der Form mit den Charakteren sowie die
Unnachahmlichkeit des Mustergültigen..." (zitiert nach Brockhaus).
Was hat nun der Begriff Klassik mit den vorher aufgezählten Filmen
gemeinsam? Filmklassiker ist eine fälschliche Bezeichnung, wir sollten
richtigerweise von klassischen Filmen reden bzw. schreiben. Trotzdem sind
meiner Meinung nach diese Filme mustergültig, vorbildhaft und überragend
in der Inszenierung von Handlung, Bildhaftigkeit und Musik.
Das vorher Gesagte trifft in besonderer Weise auch für den
Film DIE KINDER DES OLYMP zu: Es ist eine sichtbar vollendete Einheit von
Poesie, Liebe und Visualität geworden. Dieser Film hat unbestrittene
Qualitäten, wie die hervorragend in Szene gesetzte Handlung, die glänzende
Leistung der Schauspieler, die ausgezeichneten Dialoge, die fast unerreichte
Regiekunst, die guten Kameraeinstellungen usw. In diesem Film ist alles
vorhanden: Wirklichkeit und Theater, erfundene und reale Personen, Theater
und Pantomime, Stummfilm und Tonfilm, Theater und Kino, Schauspieler und
Menschen. Alle Themen und Beziehungen werden nicht abstrakt abgehandelt,
sondern in die Handlung umgesetzt. Der Film DIE KINDER DES OLMP ist ein
Film über den Zauber der Ausdruckskunst (Pantomime), und die Welt
des Theater hält dem Theater der Welt den Spiegel vor, da das Leben
in der Welt auf der Bühne des Theaters dargestellt wird. Außerdem
schafft der Film, vier unterschiedliche menschliche Grundtypen auf sehr
lebendige Art und Weise zu charakterisieren.
Dieser Film ist ein einzigartiger Film, der aufgrund seiner Qualitäten
zu einem der besten der Filmgeschichte gehört und die Zuschauer seit
über 50 Jahren nach der Premiere (am 28. Februar 1947) in die Kinos
lockt. Dieser Film zeigt ein Spiel von Liebe und Verbrechen, Schicksal
und Tod als ein großes Sittengemälde einer verflossenen Zeit.
Ich glaube fast, dass ich diesen Film überhaupt nicht richtig
beschreiben kann, da es für mich ein großes Erlebnis war, DIE
KINDER DES OLYMP zu sehen.
Ein weiterer klassischer Film, der zu den besten der Filmgeschichte
zählt, ist Sergej Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN.
Das Konzept von Eisenstein ist sehr abstrakt und zugleich sinnlich-gegenständlich,
d. h. „... man muss das, was man im Sinn hat, sehen und fühlen.
Man muss es sehen und ergreifen. Man muss es halten und im Gedächtnis
und in den Sinnen behalten. Und man muss es zugleich tun..." (A. Heinzlmeier
in Goldenes Kino, Seite 195). Dieser Film ist eine Demonstration der hohen
stilistischen Kunst Eisensteins und zeigt, wie formale Mittel einer Idee
auf vollkommene Weise untergeordnet werden. Eisenstein hat diesen Film
in der Tradition der griechischen Tragödie inszeniert und in fünf
Akte gegliedert. Die Strukturen der dramatischen Ereignisse im Film enthalten
diese Gesetzmäßigkeit. Dabei werden die Kraft der Gegensätze
von Eisenstein dialektisch herausgearbeitet und im Film dargestellt: Auf
der einen Seite das Schiff, gegenüber die Stadt Odessa; hier die revolutionierenden
Matrosen, dort die Tyrannei des Zaren. Die Dialektik in der Filmkunst Eisensteins
zeigt sich darin, dass innerhalb eines Aktes der Übergang in
eine andere Stimmung durch die Technik der Montage erfolgt und plötzlich
das Problem von einem anderen Standpunkt aus betrachtet wird.
Der Film PANZERKREUZER POTEMKIN ist ein einzigartiger Film, in dem die
Elemente des Theaters in der Handlung verarbeitet wurden und zugleich ein
Film, der durch die überragende Montagetechnik Eisensteins für
das Weltkino neue Maßstäbe gesetzt hat.
Anhand dieser zwei Filmbeispiele habe ich mich den klassischen Filmen
versucht anzunähern, um ihre Einzigartigkeit zu erklären.
Zusammenfassend kann ich sagen, dass nicht der Filmkritiker zu
einem klassischen Film beiträgt, sondern eine Idee, die genial von
Menschen in Form, Struktur und Gestalt in vollendeter Einheit im Film umgesetzt
wird. Außerdem glaube ich, dass solche Filme durch die Einzigartigkeit
zu klassischen Filmen geworden sind und diese Filme dadurch der Nachwelt
erhalten wurden. Andererseits sollten die Menschen als Zuschauer die klassischen
Filme erleben, dann spüren sie die Faszination, die von diesen Filmen
ausgeht.
Leider kann ich nicht auf alle klassischen Filme eingehen, liebe Leserinnen
und Leser, aber in einem späteren Artikel werde ich den Kultfilm erläutern,
und dabei komme ich bestimmt auf einige andere klassische Filme zurück.