Filmgestaltung
Zwischenschnitt und Parallelschnitt – 4.Teil
von GÜNTHER WALTHER


Im Verlauf meiner früheren Ausführungen ist mehrfach der Begriff des Zwischenschnitts gebraucht worden. Unter Zwischenschnitt wollen wir, um diesen Begriff zu definieren, den Einschnitt einzelner Einstellungen oder ganzer Sequenzen in eine filmische Handlung mit dramaturgischer Absicht verstehen.
Kehren wir nun nach einem langen Umweg wieder in das Atelier des Herrgottschnitzers und zu unseren Überlegungen um die Gestaltungsmöglichkeiten zurück. Welche Zwischenschnitte hatten wir denn bisher beim Aufbau unseres Films verwendet und wie wirkten sie?

Einsatz und Wirkungen des Zwischenschnitts

1. Die Einstellung vom Gesicht des Künstlers als Zwischenschnitt zwischen zwei Einstellungen vom Werkstück und seiner Bearbeitung. Hier hätten wir mit gleicher Wirkung auch einen Blick auf das zahlreiche Werkzeug des Bildschnitzers werfen können. Dass auch hier der Ort des Geschehens gleichgeblieben ist, ist deutlich zu erkennen. Statt die Entwicklung des Kunstwerks ohne Unterbrechung zu zeigen, trennten wir den Handlungsablauf auf und vermittelten durch den Zwischenschnitt einen Zeitablauf.
2.Eine kleine Sequenz, die in drei Einstellungen zeigt, woher das Holz kommt, das der Künstler verwendet, haben wir zwischen die bereits genannten Einstellungen eingefügt und damit ebenfalls einen, jetzt aber längeren Zeitablauf signalisiert.
Während der Zwischenschnitt nach 1. nur einen Zeitablauf assoziiert, signalisiert der Einschnitt nach 2. außerdem einen Wechsel des Handlungsortes.
Der Zwischenschnitt bewirkt im Zuschauer immer das Gefühl eines Zeitablaufs, wenn im eingeschnitten Bild eine Handlung gezeigt wird, die selbst einen Zeitablauf sichtbar macht. Dies ist nicht der Fall, wenn das Motiv im Zwischenschnitt unbewegt ist. Eine Felswand, von der man weiß, dass sie sich im Verlauf eines menschlichen Lebens nicht verändert, ist solch ein Motiv. Aber auch das Meer, das sich zwar bewegt, dies aber immer und gleichförmig tut, ist ein Bildinhalt, der keinen Zeitablauf erkennen lässt. Derartige Zwischenschnitte kann man verwenden, wenn man einen Zeitablauf absichtlich nicht anzeigen will. Der Zwischenschnitt assoziiert dann nur den Ortswechsel. Hätten wir im Fall 2. unseres Beispiels für Zwischenschnitte mit einem harten Schnitt an die Einstellung des Künstlers die Einstellung vom Holzfäller im Wald angefügt, wäre dies ebenfalls ein Zwischenschnitt mit der beabsichtigten Wirkung gewesen. Der übergangslos dargestellte Ortswechsel hätte jedoch den Betrachter verwirrt, er hätte unnötig lange Zeit gebraucht, um sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Daher wählten wir den sanfteren Weg, den Zwischenschnitt mit einer Einstellung zu beginnen, die der letzten Einstellung im Atelier (Späne) ähnlich ist, aber dennoch erkennen lässt, dass wir den Ort der Handlung verändert haben.
Von der Wirkung der Zwischenschnitte wissen wir nun einiges. Wir haben uns auch daran gewöhnt, ständig das Erfordernis des filmlogischen Handlungsablaufs zu beachten. Die Wirkung von Zwischenschnitten hängt aber auch von der Auswahl, vom Inhalt dieser Zwischenschnitte ab. Unterscheiden wir da einmal in Form einer kleinen Systematik:

Die Systematik des Zwischenschnitts

1. Man bezeichnet einen Zwischenschnitt als neutral, wenn die eingeschobene Einstellung oder Sequenz einen neutralen, nicht unmittelbar mit der filmischen Handlung verbundenen Inhalt hat. Es muss jedoch zumindest ein räumlicher Bezug bestehen.
Ein Beispiel: Zwischen die bereits mehrfach für unsere Zwecke benutzten Einstellungen des Bildschnitzers montieren wir eine Einstellung vom Blick aus dem Fenster des Ateliers auf die Berglandschaft. Das angeschnittene Fenster zeigt an, dass wir uns noch immer im Werkstattraum des Künstlers befinden, (das tut übrigens auch der Originalton unter dieser Einstellung, mit dem wir uns noch ausführlich beschäftigen werden!) ein Ortswechsel wird daher nicht angezeigt. Der Zwischenschnitt ist aber geeignet, einen Zeitablauf zu assoziieren.
2. Einen Zwischenschnitt nennen wir handlungsbezogen, wenn der Inhalt der Einstellung oder der Sequenz einen direkten Bezug zur filmischen Handlung hat. Einen derartigen Zwischenschnitt hatten wir bereits angesprochen bzw. „durchgeführt", als wir zwischen die beiden Einstellungen einmal das Gesicht des werkenden Künstlers, ein anderes mal das Werkzeug des Bildschnitzers einfügten. Der Bezug dieser Einstellungen zur Handlung ist klar.
3. Wir verwenden einen internen Zwischenschnitt, wenn wir hierfür ein Detail aus der Filmhandlung einfügen. Der Inhalt der Einstellung hat direkt mit der Filmhandlung zu tun. Beispiel: wir unterbrechen die Darstellung des Handlungsvorgangs und fügen zur Überbrückung eines Zeitablaufs eine Einstellung ein, die ganz groß zeigt, wie ein Detail entsteht. Die
Ganz-Groß-Einstellung trennt den Betrachter vom Handlungsablauf, die nächste Einstellung nach dem Zwischenschnitt kann dann bereits zu einem deutlich späteren Zeitpunkt spielen. Auch dieser Zwischenschnitt zeigt nur einen Zeitablauf, jedoch keinen Ortswechsel an.
4. Man spricht schließlich von einem externen Zwischenschnitt, wenn dieser zwar handlungsbezogen ist, jedoch Vorgänge außerhalb des Raums zeigt, in dem die unterbrochene Handlung spielt. Dieser externe Zwischenschnitt hat für uns eine ganz besondere Bedeutung. Er hat zunächst zwar die gleichen Wirkungen wie die bereits genannten Zwischenschnitte: Auch er kann Zeitabläufe assoziieren, auch mit ihm gelingt es, einen Ortswechsel anzuzeigen, aber nur mit ihm gelingt es, in die Haupthandlung des Films eine zweite Handlung einzuschieben, ohne den Zeitablauf der Haupthandlung zu unterbrechen, wenn wir dies so wollen. Wir sprechen hier vom sogenannten Parallelschnitt, einem dramaturgisch besonders wirkungsvollem Gestaltungsmittel.

Schon bei der Aufnahme müssen Schnitte eingeplant werden

Gestatten Sie mir einen „Zwischenschnitt" in dieser Abhandlung: Wir sprechen fast ununterbrochen von Schnitten, erwähnen den Begriff der Montage, während sich doch das Thema dieser Abhandlung mit der Filmaufnahme, also mit der Herstellung der kleinsten Einheit eines Films, der Einstellung und allenfalls noch mit der Sequenz, der kleinsten abgeschlossenen Handlung, beschäftigen soll. Ich wiederhole, was ich bereits an anderer Stelle meiner Abhandlung gesagt habe: Jede Einstellung muss unter dem Aspekt der späteren Verwendung gesehen werden. Mit der Kamera gestalten wir bereits unseren Film, liefern wir das Material, das uns gestattet, unsere ganze Kreativität in die spätere Montage des Films einzusetzen. Der beste Schnittmeister ist überfordert, wenn ihm nicht das Rohmaterial zur Verfügung steht, das er zur Verwirklichung der Filmidee braucht. Beim Filmschnitt, der Filmmontage, beschäftigen wir uns nur noch mit dem Zusammenfügen der vorhandenen „takes" – so die „neudeutsch-fachmännische" Bezeichnung für die Einstellungen – zu einem Film im Sinne der Filmidee.
Überlegungen zur Filmgestaltung bei der Aufnahme müssen die künftige Bearbeitung des Filmmaterials durch Schnitt und Montage einbeziehen.

Vom Zwischenschnitt zur Parallelmontage

Zurück zum Zwischenschnitt in der Form des externen Zwischenschnitts und der besonderen Form der Parallelmontage.
Unser Film vom Herrgottschnitzer in seiner Werkstatt mag noch so vollkommen „fotografiert" sein, er mag noch so abwechslungsreich gestaltet sein, im Grunde genommen stellt er doch nichts weiter dar, als eben das Entstehen einer Christusfigur aus einem Stück Holz. Die Gefahr, dass unser Film trotz allem nach kurzer Zeit langweilig wirken wird, liegt sehr nahe.
Was noch fehlt, ist die Spannung in der gesamten Handlung. Da unser Filmthema keineswegs dem Filmgenre „Spielfilm" zuzuordnen ist, ist ein dramatischer Spannungsbogen, wie er zur Handlung des Spielfilms zwangsläufig gehört und sich aus der narrativen Form jedes Spielfilms ergeben muss, so nicht zu bewirken. Eine Möglichkeit, unserem Film Spannung zu verleihen, ist eben die Parallelmontage zweier Handlungen, die nicht nur zu ganz verschiedenen Zeiten stattfinden können, sondern sich auch an ganz verschiedenen Orten abspielen dürfen. Ich komme damit zum Abschnitt c. unseres Treatments, zu der Stelle unseres Films, an der wir uns ein wenig aus dem Atelier des Künstlers entfernen wollen, um über den Sinn, die Tradition und die Beziehung der kleinen Kunstwerke zur Tiroler Landschaft "nachzudenken". Die Logik unserer Filmhandlung gestattet es auch, dass wir dem Hauptgeschehen im Atelier des Bildschnitzers eine Parallelhandlung dieses Inhalts hinzufügen.

Die Kunst des Parallelschnitts

Die zweite Handlung des Films werden wir nun in der gewohnten Form eines Zwischenschnitts einfügen. Ich deutete bereits an, dass ein derartiger Zwischenschnitt zwar einen Zeitablauf signalisieren kann, dies aber nicht zwangsläufig tun muss. Hier zeigt sich das Phänomen der Filmzeit von einer seiner stärksten Seiten. Wir sind in der Lage, eine Handlung in einen Film einzuschieben, ohne dass vom Ablauf der Haupthandlung auch nur eine Sekunde verloren geht.
Stellen Sie sich bitte vor, wir unterbrechen die Haupthandlung genau (!) an der Stelle, an der der Bildschnitzer einen Hammerschlag ausgeführt hat, fügen ab dort den Zwischenschnitt in Form der Parallelhandlung ein und setzen die Haupthandlung mit dem nächsten Hammerschlag fort. Diese Unterbrechung hat in Wirklichkeit nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert, sie wird aber ausgefüllt von einer parallelen Handlung, die in 15 Minuten vielleicht oder mehr dargestellt wird. Umgekehrt ist es möglich, eine längere Unterbrechung der Haupthandlung durch kurze Parallelhandlungen auszufüllen. Der Spielfilm gibt genügend Beispiele dafür her. Die Bewältigung der Zeit im Film, die Umformung der Realzeit, wir kennen diesen Begriff inzwischen sehr genau, in die Zeit des Films ist eine der reizvollsten Aufgaben der kreativen Filmgestaltung.
Ich überlasse es nun Ihrer Fantasie, sich auszumalen, in welcher Form Sie diese Parallelhandlung gestalten, mit welchen Gedanken und Ideen, mit welchen Bildern aus der fantastischen Landschaft der Berge Sie sie ausfüllen. Beachten Sie nur, dass sich die Logik Ihres Films auch in der Parallelhandlung fortsetzen muss. Obwohl wir uns mit dieser Parallelhandlung zumindest vom Ort des bisherigen Geschehens entfernen, u.U. sogar diese Handlung in eine ganz andere Zeit verlegen, beim Thema „Herrgottschnitzer in Tirol" müssen wir bleiben.

Der Parallelschnitt beinhaltet immer eine dem Filmthema benachbarte Handlung

Sie werden inzwischen bemerkt haben, dass die filmgestalterischen Begriffe nur selten eindeutig zuzuordnen sind. Viele Instrumente der Filmgestaltung beeinflussen sich gegenseitig. Es gibt keine absoluten Grenzen und bei der Behandlung des Themenkomplexes „Raum im Film", wird man zwangsläufig auch den Themenkreis „Zeit im Film" tangieren und so fort.
In ähnlicher Weise ist die Wirkung des Zwischenschnitts mit dem Parallelschnitt verzahnt. Die Definition des Zwischenschnitts, wie ich sie am Anfang dieses Kapitels gegeben habe, ist inzwischen zu allgemein geworden. Sie ist sicher richtig, wenn wir auch den Parallelschnitt als Zwischenschnitt einer Handlung ansehen. Die Wirkungsweisen beider Gestaltungsmittel ähneln sich jedoch nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung. Tatsächlich soll ein Zwischenschnitt das Mittel sein, durch neutrale, aber themenbezogene Bildinhalte Zeitabläufe unbemerkt zu unterbrechen, zu überbrücken oder einen Ortswechsel einzuleiten. Der Parallelschnitt beinhaltet jedoch immer eine dem Filmthema benachbarte Handlung, die gleichzeitig verlaufen kann, aber nicht muss. Durch die Parallelisierung mehrerer Handlungen entsteht jedoch immer der Eindruck der Gleichzeitigkeit. Dass die Handlung am gleichen Ort spielt, muss jedoch deutlich gemacht werden.

Beispiele des Parallelschnitts

Auf den Parallelschnitt müssen wir wegen seiner Bedeutung und Wirkung ausführlicher eingehen. Mit dem Wort „Parallelschnitt" habe ich Ihnen vielleicht einen für Sie bisher ungewohnten Begriff angeboten. Ganz sicher aber haben Sie dieses Filmgestaltungsmittel schon sehr oft in Ihren eigenen Filmen angewendet.
Statt einer Definition ein Beispiel: Märkte sind in ihrer farbenprächtigen und lebhaften Vielfalt immer interessante Filmobjekte. „Da tut sich immer etwas!". Um den Markt darzustellen, genügt im Grunde eine Totale über den Platz mit seinen bunten Schirmen und Ständen, mit dem Geschrei der Händler.
Vor einem definierbaren Hintergrund und bei genügender Länge der Einstellung würde uns so bereits ein Eindruck vom Markt in der Stadt XYZ vermittelt. Tatsächlich geschieht aber auf dem Marktplatz sehr vieles:
Eine dicke Marktfrau in bunter Tracht bietet ihr Gemüse an, ein Fischhändler bedient seinen Kunden, ein Straßenmusiker vermittelt Klassik am Rande des Marktes, Männer unterhalten sich im Trubel des Marktes über das Stadtgeschehen, Frauen prüfen sorgfältig das Warenangebot und Kinder schließlich schauen mit großen Augen dem Treiben der Erwachsenen zu. Diese wenigen Beispiele stellen für sich einzelne, abgeschlossene Handlungen dar, die aber alle zu gleicher Zeit, am gleichen Ort und unter dem gleichen Hauptthema „Markt in XYZ" spielen. Es sind Parallelhandlungen, die im Gesamtbild des Films als Parallelschnitte erscheinen. Das relativ starre Bild des Marktes in der Totalen wird durch die lebhaften, in großen Darstellungen gezeigten Einzelhandlungen interessanter und spannender.

Parallelhandlungen können an unterschiedlichen Orten spielen
 
Es ist nicht erforderlich, dass parallele Handlungen am gleichen Ort spielen: Beginnen wir unseren Film am ganz frühen Morgen, wenn die Marktstände gerade aufgebaut und beschickt werden.
Durch Parallelschnitt zeigen wir, wie sich ein Lieferwagen durch die Stadt quält, um rechtzeitig zum Markt zu kommen. Ein Marktstand wird gerade aufgebaut und dieser Stand ist das Ziel des Lieferwagens. Hier trifft schließlich eine Handlung ,der Standaufbau, mit der anderen – Anfahrt des Autos – zusammen, um sich ab hier gemeinsam fortzusetzen.
Ein spannenderes Beispiel: Parkplätze sind an Markttagen in der Stadt sehr rar. Ein Mann will also die Straßenbahn benutzen, um zum Markt zu kommen. Die Zeit drängt. In wechselnden Einstellungen zeigt die Kamera den Mann, der durch die Straßen eilt und die Straßenbahn, die durch die Stadt fährt. Der Mann läuft von schräg links nach rechts, die Straßenbahn von schräg rechts nach links. Aus der Folge der Einstellungen und auch der Bewegungsrichtung beider Objekte erkennt man, dass der Mann und die Straßenbahn ein gleiches Ziel haben – die Haltestelle.
Den Weg des Mannes zeigen wir in vielleicht drei Einstellungen, den der Straßenbahn ebenso oft. Der Mann und die Straßenbahn treffen sich schließlich am gemeinsamen Zielpunkt, der Haltestelle. Zwei Handlungen, die gleichzeitig verliefen und die sich ergänzten. Für sich betrachtet, wären beide Handlungen sinnlos, denn was soll es bedeuten, wenn ein Mann durch die Stadt eilt und welchen Sinn macht in unserem Film die Straßenbahn, wenn sie fährt und sonst nichts geschieht? Erst das Zusammenfügen beider Handlungen sagt aus, dass ein Mann zur Haltestelle eilt, um noch die nächste Straßenbahn zu erreichen.

Wirkungen des Parallelschnitts

Parallel geschnittene Handlungen können ganz verschiedene Wirkungen haben: Ein Kind fährt auf einen Schienenüberweg zu. Gleichzeitig sieht man einen Zug ebenfalls auf diese Kreuzung zufahren. Das Kind kommt näher, der Zug ebenfalls. In mehreren kurzen Einstellungen spielen wir das Geschehen hoch, bis schließlich der Zug an uns vorbeirast. Über das Schicksal des Kindes erfährt der Zuschauer erst etwas, wenn der Zug das Blickfeld freigibt – es steht unversehrt auf der anderen Seite des Bahnübergangs. Ein Parallelschnitt zweier Handlungen, der eine fast unerträgliche Spannung erzeugen kann.

Ein Film entsteht aus der Montage parallel ablaufender Handlungen

Wenn wir den Begriff „Handlung" gebrauchen, sollten wir uns darüber im klaren sein, dass eine Handlung auch aus kleinstem Geschehen in der Szene bestehen kann. Es genügt, dass irgend etwas geschieht, dass irgend jemand etwas tut, er braucht sich dabei nicht einmal zu bewegen. Die kleinen Dinge am Rande sind es oft, die zu einem Film anregen: Großstadtgetriebe, ein Marionettenspieler, dessen Puppe eindeutige Züge Paganinis trägt, zeigt an der Straßenecke seine Kunst. Seine Puppe spielt ein Violinsolo. Leute schauen und hören zu. Aus dieser Situation entstand J. Gerhards „Solo für Zwei", ein Kabinettstückchen filmischer Kleinkunst. Die Handlungen, die zueinander parallel ablaufen, waren:
1. Ein Marionettenspieler führt eine Marionette, einen Violinvirtuosen.
2. Die Marionette, die synchron zur Musik die Violine spielt.
3. Zuschauer, die aufmerksam und fröhlich dem Spiel der Puppe folgen.
4. Kinder, die sich an der skurrilen Puppenfigur erfreuen,
5. Die Füße der Puppe, die sich im Rhythmus der Musik bewegen und
6. die Füße des Puppenspielers, die das gleiche tun.
Die Musik kommt aus einem Kassettenrekorder, den sich der Mann umgehängt hat. Der Film beginnt im Großstadtgewühl und endet auch dort. Der Film hat die Länge des Musikstücks. Jede der einzelnen Szenen, die ich hier aufgezählt habe, ist eine in sich schlüssige Handlung: Die Menschen schauen zu, die Kinder freuen sich, die Puppe spielt ihre Violine usw. In wechselnden Einstellungen hat die Kamera diese Handlungen eingefangen, der Film entstand aus der folgerichtigen Montage dieser parallel ablaufenden Handlungen, ein Meisterwerk.
Zweifellos spielte die Handlung „Solo für Zwei" zur gleichen Zeit am gleichen Ort, wenn auch der Autor die eine oder andere Einstellung unter ähnlichen Umständen zu einer ganz anderen Zeit und an einem ganz anderen Ort hätte aufnehmen können; es wäre unwichtig gewesen.
Der deutlichste Hinweis aber, dass der Autor die Handlung seines Film zur gleichen Zeit und am gleichen Ort spielen lassen wollte, ist die geschlossene Wiedergabe des Musikstücks, die Behandlung des O-Tons, der durch eine gekonnte Mischung von „Straßenatmo" und dem Violinsolo dem Film zu einer besonders plastischen Gestalt verhalf.
Der durchgehende Ton machte jede Art von Blenden oder Zwischenschnitten als Übergänge zwischen den Handlungen überflüssig, er selbst verband alle Handlungen zu einem einheitlichen Ganzen.

Für die Filmgestaltung ist der Parallelschnitt ein unentbehrliches Instrument

Diese wenigen Beispiele lassen erkennen, dass auch der Parallelschnitt nichts weiter ist als die Erkenntnis eigenen Verhaltens in unserer Umwelt. Niemand, der sich unter Menschen befindet, starrt ununterbrochen auf einen Punkt und lässt alles andere um sich herum unbeachtet. Die Augen wandern vielmehr und erfassen in kürzeren oder längeren Zeiten das Geschehen im Blickfeld. Nichts weiter ist der Parallelschnitt im Film. Und wie das Auge, das auf interessanten Dingen und Geschehnissen länger verweilt als auf nebensächlichen, so wählt der Filmer die für seinen Film interessanten Handlungen aus und verzichtet auf die Wiedergabe nebensächlicher Dinge. Wie er die Bedeutung einzelner Objekte seines Films hervorhebt oder vernachlässigt, hatten wir ausführlich besprochen.
Was aber der Mensch im Gegensatz zum Film nicht kann, ist, Handlungen zu gleicher Zeit an ganz verschiedenen Orten zu verfolgen (solange er sich nicht raffinierter technischer Einrichtungen bedient!). Das gleichzeitige Miterlebenlassen verschiedener Geschehnisse an verschiedenen Orten ist eine der Möglichkeiten, die dem Film vorbehalten sind. Der Parallelschnitt ist ein unentbehrliches Instrument hierfür.